Text von Miryam Abebe zur Ausstellung im "Kunstraum Gepard14" in Bern-Liebefeld 2018
Wer hat an der Uhr gedreht?
Aufhänger der dieser Ausstellung ist eine Sammlung von Fotografien, Reisedias und Familienalben aus einem Nachlass von Patrik Marcet. In unzähligen Briefumschlägen, Metall- und Pappschachteln
wurden Reisepässe, wissenschaftliche Aufzeichnungen und Fotografien gesammelt. Wissenschaftliche Notizen des Baumforschers Enrique Marcet – der scheinbar unerreichbare Onkel, der es geschafft hat
als Forscher die Welt zu bereisen.
Beim Sichten der Bilder wurden Erinnerungen an gemeinsame Familienabende mit Diaprojektionen geweckt. Nicht die Summe der Bilder – viel mehr hat es ein bestimmtes Bild geschafft Erinnerungen zu
wecken und die Momente Revue passieren zu lassen. Gleichzeitig kam der Wunsch auf die Sammlung zu öffnen, um neue Sichtweisen zu bekommen, eine Antwort zu finden was mit all den Fotografien und
Schriftstücken zu tun ist und die persönliche Betroffenheit aufzubrechen. Einen kleinen Einblick davon gibt diese Ausstellung – Patrik Marcet hat drei befreundete Kunstschaffende Patricia
Büttiker, Carl Leyel und John Wolf Brennan eingeladen mit dem Archiv zu arbeiten. Diese Einladung und das Sichtbar-Machen dieses Familienarchivs hat dazu beigetragen, dass Beteiligte andere
Projekte ruhen lassen konnten und sich mit anderen Erinnerungen und Bildern auseinander setzen konnten – sich auch zu fragen wer wohl an der Uhr gedreht hat.
Patrik Marcet konzentriert sich auf die Bilder des eigentlichen Grundes der Reisen seines Onkels, der als Dendrologe – Baumforscher Südostasien, Afrika und Amerika – oft in Begleitung seiner
Ehefrau Erika – bereiste. Mit Hilfe eines Stereomikroskops konnte er sich ganz auf die Bilder fokussieren und über die Sorgfalt der Aufnahmen staunen. Der tiefe Einblick in die Bildwelt seines
Onkels verschafft eine ungeahnte Intimität im Augenblick des Betrachtens. Mit der Art und Weise der installativen Präsentation lässt es die Betrachtenden an ein Blätterdach, an Palmenrinden
erinnern und vielleicht sogar an die letzte Reise durch Südostasien, Afrika und Amerika.
Patricia Büttiker hat sich vor allem der alten Familienalben bedient und einzelne Bilder – mit immer den gleichen Familienmitgliedern – ausgewählt und sie mit Stichworten versehen. Daraus ist die
Arbeit "Kindheit gibt es nur im Singular" entstanden. Mit wenigen Worten entstehen fragmentarische Geschichten. Das Singular deutet auf individuelle Erinnerungen hin, die auch einen kollektiven
Charakter haben können, sei es das Spiel im Wald oder die Reise mit dem Auto durch einen Tunnel. Vielleicht erinnert man sich an die Spielereien im Auto wie man die Langeweile auf lange Fahrten
vertrieben hat – man winkt den überholenden oder hinterher fahrenden Autos zu und streckt ihnen die Zunge raus, wenn sie nicht reagieren – vielleicht taucht man zugleich in die Musik ein, die im
Auto lief, damit die lange Fahrt ans Meer ertragbar wird oder die Musik der Cantautori in der Lieblingsosteria oder die Flamencorhythmen mitten auf dem Dorfplatz.
Vielleicht sind es auch die Klänge der Chansons, die überall aus den Lautsprechern schallen. Bilder und Worte helfen sich zu erinnern – viel mehr sind es Trigger, die uns Filme vor dem inneren
Auge abspielen lassen, uns vielleicht auch den Rhythmus der Zeit, der vergangenen Zeit in die Hüfte, ins Herz zurückbringen. Möglicherweise haben wir die Klänge lange nicht mehr gehört und
dennoch bringen sie uns zu Erinnerungen zurück. Manchmal leise und taktvoll, manchmal laut und manchmal auch taktlos. Genau solche Momente, Bilder von Situationen weckt John Wolf Brennan mit
seiner U(h)rmusik aus dem Bilder- und Klangmeer. Alle, die wir einmal Musikunterricht hatten kennen ihn – den Metronom. Vielleicht hat er uns zum Wahnsinn getrieben, weil er immer recht hatte.
Reibungsfläche mit ihm gab es genug. Mit seinem steten Tempo verdichtet er kaum merklich die kaum merklichen Phasenverschiebungen – weil er mit seinem Takt recht hat – und überrascht mit seinen
Kontrapunkten.
Carl Leyel lässt sich von der Stimmung einer Farbfotografie – ein Portal, das in einen friedlichen, stillen und wohl auch menschenleeren Garten führt – inspirieren und nimmt diese in seiner
Arbeit auf und thematisiert die Beziehung zwischen Figuration und Abstraktion. Gleiches Format, zwei quer, drei hoch und doch ganz verschieden in ihren Farben – mauve, grün, balu, rosa und grau.
Im Gegensatz zur Fotografie stellen sie – eigentlich – nichts dar und doch hat jedes für sich eine leise Sprache und lässt den Betrachter/die Betrachterin eine Stimmung spüren. Berührt mich die
Fotografie? Die Farbe eines jeden Bildes? Die Fotografie weckt möglicherweise Erinnerungen an den Garten der Grosseltern, einer Schulfreundin, das Ölbild hingegen regt die Gedanken, die Träume
von heute an.
Kunstkritiker Konrad Tobler über die Ausstellung im Gluri Suter Huus, Wettingen
"Das Licht führt zur Werkgruppe von Patrik Marcet (im unteren Saal). Er zeigt fotografische Experimente – hier ist er: der Forscher – und zwei Radierungen. Auch bei Marcet geht es nicht um ein Abbild, wie man das von der Fotografie gemeinhin erwartet. Er bildet zwar ab, aber verweigert dann gleich wieder, dass man benennen könnte, was er abbildet. Auch er geht über das Abbild hinaus – um zu neuen Bildern zu gelangen. Dabei spielen bei ihm vor allem zwei Faktoren eine wichtige Rolle: das Licht, selbstverständlich, handelt es sich doch um Lichtbilder; dann aber auch die Zeit. Fotografie hält die Zeit an. Marcet zeigt aber Zustände, in denen die Zeit weitergeht. Er zeigt Bewegungen, Veränderungen und Verwerfungen in der Landschaft – oder sind es nur Erdhaufen, die aussehen wie Berglandschaften? Das spielt keine Rolle, denn die Szenerien an sich sind solche, die ständiger Veränderung unterworfen sind, durch das Wasser oder durch die Erosion, manchmal ist das sichtbar, manchmal erfolgen die Brüche über Jahrzehnte oder Jahrhunderte.
In seinen Porträtaufnahmen erhält der Begriff der Erosion eine weitere Bedeutung: Hier ist es das Licht, das das Bild zwar generiert, zugleich aber auch wieder verschwinden lässt, indem die Aufnahmen bis zu 30 Minuten immer wieder belichtet wurden. Das erinnert an den Prozess der Erinnerung. Auch hier ist es ja so, dass sich immer wieder Bilder überlagern, dass die einen undeutlich werden, von anderen verdrängt, vielleicht gar, wie im Traum aus zwei, drei erinnerten Bildern ein neues entsteht.
Genau das geschieht in der dritten Werkgruppe von Marcet. Hier hat er ein Negativ zwei oder drei Mal belichtet. Man sieht also doppelt oder dreifach, ohne das, obwohl man es vielleicht erahnt, zu bemerken. Und wohlgemerkt: Marcet verwendet nur Techniken, die die Fotografie seit ihren Anfängen kennt. Hier ist alles analog entstanden – und die Reflexion geht selbstverständlich dahin, was ein Bild zeigt, was ein Bild zu einem Bild macht und schliesslich: was denn die Wahrheit eines Bildes überhaupt sein kann."